Irgendwas ist mit den Zügen in Berlin passiert. Um vom Alexanderplatz nach Bernau zu kommen, muss ich mit der U-Bahn bis Senefelderplatz fahren, dann lange auf den Zug nach Pankow warten und von dort aus die Stadtbahn erwischen – die S2.
In der BVG-App heißt es knapp: Bauarbeiten auf der Strecke, entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, planen Sie zusätzlich Zeit für Wartezeiten und Umstiege ein.
Und ich plane sie ein, kalkuliere zusätzliche zwanzig Minuten der Ewigkeit für einen Zwischenhalt. Als wäre es ein kosmisches Vakuum, ein Zwischenraum, eine Lücke zwischen zwei Segmenten der Realität, die sich aus unbekanntem Grund auf verschiedenen Ebenen des Seins befinden. Willst du von der einen in die andere gelangen? Willkommen in der Vorhölle. Hier gibt es keine ewige Qual, aber auch keine himmlische Gnade. Ein idealer Zufluchtsort für Dichter, Philosophen, Helden, denen es an christlicher Demut fehlt, und für Flüchtlinge.
Ich fahre jeden Tag zu einem Intensivsprachkurs nach Berlin und zurück, deswegen bin ich ständig am Senefelderplatz. Ich schlendere unter der Erde zwischen den schattenhaften Passagieren umher, geblendet-taub, darüber nachdenkend, wohin der Schienenfluss jene tragen wird, die freiwillig diese Dunkelheit betreten haben. Hier der Beweis: ein Abdruck schmaler Ziffern auf dem Rand des Tickets, 15. Oktober, 15.15, Zonen ABC. Bist du bereit, dem Licht zu entsagen, dich in der Nichtexistenz wiederzufinden?
Ich bin bereit!
Statt Granatapfelkerne zu schucken, die Wegzehrung der Toten, entwerte ich die Dauerfahrkarte – bringe immer neue Kerben in die Strichmarkierungen auf festem Papier.
Habe ich Angst, steckenzubleiben, die Richtung zu verwechseln? Noch nie hat mich der gelbe Wagen der U-Bahn im Stich gelassen. Ratternd und mit den Türen schlagend, auf denen eine Verzierung mit dem Brandenburger Tor angebracht ist, schleppt er mich gewissenhaft an die Oberfläche, immer dienstags, montags, donnerstags und mittwochs. Freitag ist Ruhetag – da gibt es keinen Deutschunterricht an der Sprachschule, und ich finde andere Orte für die Traurigkeit.
Heute ist Donnerstag. Der Zwischenraum Senefelderplatz liegt hinter mir. Ich bin in der S-Bahn, die S-Bahn rauscht durch das Kupfer und Gold der Brandenburger Wälder. Ihre schwirrende Schönheit brennt mir in den Augen. Alles geht durcheinander, mein Waggon ausgenommen, der folgt strikt der Route: Karow, Buch, Zepernick … S2, Richtung Bernau.
Ich huste unterdrückt in meine Maske. Die Erkältung - das Zeichen der Zuneigung der Nordsee zu mir – ist noch nicht abgeklungen. Es tut mir leid, mich von seiner ungesunden Liebe zu verabschieden, aber von der Anspannung verkrampfen sich meine Bauchmuskeln. Zusätzlich zum Husten würge ich an Tränen. Die Tränen erschrecken die Sitznachbarn im Waggon mehr als das trockene Keuchen meiner gequälten Lungen.
Sicher denken die Leute, ich hätte Tuberkulose. Wir sind bald da, deswegen fange ich an zu heulen, verschlucke mich dabei. Oder ich habe Covid – schwerer Verlauf, meine Augen glänzen fiebrig, und die Finger sind kalt, wie bei einer toten Mawka mit einem Loch im Rücken, aus dem die Eingeweide quellen.
Ich taste meine Wirbelsäule ab. Kein Loch da. Auch kein Covid - ich habe einen Test gemacht. Dafür brummt mir eine weitere Woche der Kopf - leise und stetig, wie das Geräusch von Strom in Hochspannungsleitungen. Das stört nicht weiter, aber es umhüllt mich, verwandelt sich aus einem äußeren Reiz in eine Sinneswahrnehmung, wie Sehen oder Hören. In einen Fühlsinn des Schmerzes über das verlassene Zuhause.
Ich fahre nach Bernau, fühle mich dort aber nicht willkommen. Letztes Wochenende habe ich im Bett gelegen, bis zur Auszehrung abgeküsst von den Winden Schleswig-Holsteins – mit Schnupfen und Halsweh. Niemand kam rein, um nach mir zu sehen oder zu fragen, ob ich Fieber habe. Ab und zu wird in meinem Zimmer die Heizung abgestellt, sogar das Passwort für Netflix wurde geändert, obwohl wir ein Premium-Abo haben. So ist das.
Immer noch suche ich eine Wohnung, einen Job, Menschen, finde aber immer nur die Vorhölle mit Dutzenden von wortlosen Figuren. Wohin soll man sich in einem fremden Land wenden, wem seinen Schmerz eines gebrochenen Herzens bringen, die Angst um geliebte Menschen, die Wut auf diejenigen, die den Krieg begannen? Wer bleibt bei einem, wenn die strahlende Maid nicht mehr eine über die Wiesen schreitende Maigöttin ist und sich in die Herrscherin der Unterwelt, der Zerstörung und des Todes verwandelt?
„Wer?“, fragt Ludwig nach und reicht mir den Wein. Trotz meines rätselhaften Englischs hört er mir aufmerksam zu.
Ich nehme einen Schluck. Ich bin 34 geworden, das ist nur ein winziges Glas Rosé, aber nach der Vorhölle, der Schwermut, der Müdigkeit wirkt er wie ein Beruhigungsmittel. Das Zimmer geht aus den Nähten, durch die Risse kriecht graue Watte. Die Sessel um den Tisch beginnen fußlahm zu tanzen. Spiralförmig drehen sich die Stufen, als wir auf hinausgehen, wie ein Karussell drehen sich die Friedhofstore.
„Wohin bringst du mich, Ludwig? Ich muss zum Potsdamer Platz. Von dort fährt um zehn Uhr nochwas der Regionalzug nach Bernau, wo ich nicht willkommen bin, wo mich niemand erwartet. Wir müssen uns beeilen, aber ich kann nicht gehen. Lass uns eine Minute stehenbleiben im gedämpften Schein der barockartigen, luftigen IKEA-Leuchter. Ich sehe ihre baiserzarte Silhouette in den Portalen der Fenster, ich höre, wie Musik spielt in den Berliner Wohnungen, die in eine dämmrige Dunsthülle gepackt und mit schläfriger Ruhe ausgelegt sind. Lass mich in der Yorkstraße. Wie in ein Bett will ich mich in einen Lichtstreifen legen und bis zum Morgen schlafen.“
Aber Ludwig mag die Idee nicht, unter den Balkonen zu übernachten. Die Bank, die Allee und der alte Friedhof, auf dem die Brüder Grimm begraben sind, passen ihm auch nicht. Ihre Gräber sind zu asketisch - sie haben mich enttäuscht.
Auf dem Weg zur S-Bahnhofstation schaut Ludwig auf seine Uhr und dreht sich um.
„Wir schaffen es nicht bis zum Potsdamer Platz.“
„Nein?“ Ich halte mich an seiner Hand fest, weil ich mich an jemandem festhalten muss, um nicht zu stolpern, nicht in den schwankenden Abgrund durchzubrechen.
„Ich habe ein Auto vor der Tür. Ich bringe dich nach Bernau.“
Bis Bernau sind es fast fünfzig Kilometer und genauso viel zurück. Es ist mein zweites Treffen mit Ludwig. Er sieht, wie ich nach einem einzigen Glas fast in die Vorhölle stürze, und doch ist er bereit, mit mir in diese Ferne zu zuckeln.
Sag nein, Zhenia. Atme tief durch, warte auf den Regionalzug nach Eberswalde und winke höflich zum Abschied.
Aber die Welt dreht sich, windet Laternenpfähle und Schaufenster um ihre Achse, saugt Licht aus Bars und Mansarden ein wie ein unersättliches schwarzes Loch. Ich fürchte, ebenfalls in den kosmischen Fleischwolf gezogen und in Atome gespalten zu werden, wenn Ludwig meine Hand loslässt. Also steige ich ins Auto, schnalle mich an, schließe die Augen.
„Fahr mich in die herbstliche Vorstadtnacht. Riechst du die Äpfel? Die gepflügte, süße Erde? Jemand hat Kübel mit Chrysanthemen für uns auf die Veranda gestellt. Schau die schönen Farben - gelb, scharlachrot, violett … schwarz-schwarz im Mitternachtssamt. Wir fahren über den Laubteppich der Straße, und die dunklen Umrisse von Windrädern bewachen unseren Weg, zwinkern uns mit ihren Lichtern zu. Lang-kurz, lang-kurz. Fünfzig Kilometer liegen vor uns – das ist ewig lang, um ihre Botschaften zu dechiffrieren. Ich notiere die Signale auf der beschlagenen Scheibe. Ludwig hat es nicht eilig …
Aber schließlich sind wir da. Und auch meine S-Bahn nach Bernau hält, fordert alle auf, die Waggons zu verlassen. Endstation.
Ich steige aus, schwankend vom Husten, der verkatert in meinen Schläfen nachhallt. Katzen füttern und zurück nach Berlin - wohin auch immer, bloß nicht zusammengekauert in meinem Zimmer liegen, bis es von der Morgendämmerung erfüllt wird, die zuerst vom Fensterbrett tröpfelt und dann über dessen Rand strömt, wie die Nordsee über einen Damm.
Ich habe gehört, dass es in Schleswig-Holstein früher einen speziellen Deichwärter gab. Bei stürmischem Wetter ritt er die Deiche ab und überprüfte sie nach Schäden, damit das Meer nicht die Bauernhöfe und Felder an der Küste überschwemmte. Ich brauche so einen Wärter. Jemand, der meinen Deich vor Chaos und Schwermut beschützt. Regelmäßig zerstören sie die Verteidigungswälle, die ich kaum schaffe aufzuhäufen, und spülen mir den Boden unter den Füßen weg. Dann bleibe ich im schmierigen Lehm stecken, bis zu den Knöcheln, an schlechten Tagen bis zu den Oberschenkeln. Das Salz frisst sich in mein Herz, es gibt so viel davon, dass selbst, nachdem ich mich aus dem Schlamm gezogen habe, sich innen alles rau anfühlt.
Nachdem ich Tee mit Zitrone und Ingwer und Hustensirup in mich geschüttet habe, gehe ich los, meinen Reiter suchen. Wenn es einen geeigneten Treffpunkt gibt, dann ist es Berlin. Heute ist die Stadt besonders wohlwollend – sie leuchtet mir den Weg. Vollkommen überraschend befinde ich mich mitten im alljährlichen Lichterfest „Visions of our Future“. Ich schlendere gebannt durch die Straßen, während Blumen und Nebel benachbarter Galaxien auf den Säulen des Brandenburger Tors erblühen, während grafischer Stuck von den Wänden der Humboldt-Universität bröckelt und sofort ein neuer, raffinierterer erscheint. Ich wünschte mir, ukrainische Städte hätten diese Technologie. Zack – und schon setzen sich die Brocken aus Fassadenziegel neu zusammen, schließen sich die Risse im Beton, überziehen sich mit frischer Farbe. Zack - und alles Tote wird wieder lebendig.
Niedergeschmettert von der Erkältung und der Lichtshow erreiche ich schließlich die Museumsinsel und verliere endgültig den Kopf. Direkt vor dem Berliner Dom schweben am Himmel riesige bunte Fische.
Für einen Beschützer ist es zu spät - das Meer ist über die Ufer getreten. Kein Wunder, dass ich mich so schwerelos fühle und mir gleichzeitig etwas auf das Trommelfell drückt, das Bild vor meinen Augen verschwimmt und die Geräusche aus der Ferne kommen. Ich habe den Moment verschlafen, als das Wasser meinen Damm durchbrach und das Weideland mit den Schafen unterging.
Ich werfe meinen Kopf zurück und schaue auf die riesigen Fische, die mit ihren Flossen wedeln, rosa, grün, blau aufblinken wie stromgespeiste Zitterrochen. Edel sieht das aus. Vielleicht sollte ich ein Fisch werden, die Schwerkraft überwinden, in den kalten und warmen Strömen umherwirbeln, transzendentes Licht ausstrahlen? Mich innerlich hohl machen, damit die Meeresmassen keine Macht über mich haben.
Das klingt befreiend, aber dafür muss ich die Vorhölle nicht im gelben U-Bahnwaggon verlassen, sondern in unbekannter Richtung, muss die helle Transparenz herbstlicher Plätze gegen die blasse Feinheit von Reispapier tauschen, aus dem Fische und Drachen gemacht sind. Für immer.
Nein, ich will körperlich sein! Ich will an der Kreuzung Friedrichstraße und Unter den Linden im Bernstein des Oktobers stehen - nicht verhärtet, sondern biegsam, und ich will fühlen, wie die neuen Schuhe von „Deichmann“ sich an den Absätzen abnutzen. Mich mit der Leichtigkeit von Spitze des Jugendstils anfüllen, mich als lebendiges Muster in die Fassaden von Häusern einweben, Wendeltreppen hinaufsteigen, dabei über das Geländer streichen. Mich bewegungslos in die Fenster von Cafés einfügen und dann jäh in die Sonne verwandeln, um die sich die Welt dreht.
Dafür muss ich zunächst etwas essen und mich aufwärmen. Selbst die Sonne braucht Energie, und ich erst recht. Danach wäre es schön, einen Unterschlupf für die Nacht zu finden – nicht eine in Dunst gehüllte Vorhölle, nicht die ephemere Pracht von Lichtillusionen, sondern ein echtes Zuhause.
Ich hole mein Mobiltelefon heraus, durchsuche die Kontaktliste. Und mit dem Alphabet der Windräder, das ich auf dem Weg nach Bernau dechiffriert habe, sende ich Signale: kurz-lang, kurz, jeweils dreimal wiederholt. Tausende von Jahren werden vergehen, bis mein Hilferuf die nächstgelegenen Planeten erreicht, aber vielleicht findet sich in dieser Stadt jemand, der näher ist.
Minute für Minute. Fischsilhouetten streben am Horizont hinauf - majestätisch gespenstische Geister über dem Riesendom. Die Tiefwasserströmung von Berlin trägt mich ein Stück in ihre Richtung. Ich greife nach Bänken und Laternenpfählen und tippe immer wieder auf das Touchpad: kurz, lang, kurz …
Das Telefon piepst, und bei den auftauchenden Nachrichten sehe ich:
„Zhenia, Liebe, komm. Ich mach dir Tee, oder ich hole dich selbst ab. Wo bist du?“
„Ich bin hier, umgeben von trügerischem Licht, im Epizentrum der Dunkelheit, unter unendlich viel Wasser im Reich der Geister, ich bin in der überfüllten Leere fremder Bahnhöfe, der distanzierten Ungemütlichkeit namenloser S-Bahnstationen - all dieser Allee und Straße, die zu einer einzigen Linie verschmelzen, mich hinausdrängen …“
„Alles klar. Siehst du die Straßenbahnhaltestelle? Stell dich unters Dach und warte. Ein Carsharingauto mit der Aufschrift ‚Miles‘ an der Seite.“
Ich warte … Statt der herbeigesehnten Reiterin kommen Straßenbahnen. Ohne Nummern und Kennzeichen auf der Anzeigetafel pirschen sie sich an den Bahnsteig heran wie hungrige Bestien.
„Los, fahr mit uns zum Senefelderplatz, zur Vergessenstraße, Unter der Erde … Dorthin, wo es unbeschwert und leicht ist …“
„Weg mit euch! Ich warte auf meine Reiterin, wir wollen woandershin.“
„Komm schon, du hustest und zitterst. Es ist fast Mitternacht, da kommt niemand mehr. Es ist die rechte Zeit herauszufinden, wohin unsere Wagen die verlorenen Passagiere bringen.“
Ich halte mir die Ohren zu, streite nicht mit den Trams, lasse sie davonrollen.
„Du wirst es bereuen!“, knirschen sie. „Jetzt sieht die Stadt noch aus wie ein Weihnachtsbaum mit Lichterkette, aber wenn es hell wird, um drei, vier Uhr morgens, ist es feucht und tot hier, wie auf dem Grund eines Brunnens. Da hilft auch kein Jugendstil mit Bögen und Erkern …“
Ich höre nicht hin. Ich warte …
Und da höre ich das Rauschen von Reifen auf dem Asphalt. Ein schwarzer VW mit weißer Aufschrift „Miles“ an der Autotür. Die Schatten der Straßenbahnen weichen vor ihm zurück wie vor einer Fackel, und ich laufe auf ihn zu und springe hinein. Zhenia, wie schön!
Morgen werde ich in einem sonnigen Zimmer neben dem Park aufwachsen, Frühstück für uns beide zubereiten. Wir werden Shakshuka essen und die Beine baumeln lassen, wenn wir auf den hohen Barhockern sitzen, und Fische und Straßenbahnen werden sich zerstreuen.
Im runden Spiegel in Zhenias Schlafzimmer zeige ich mich in Farbe und Volumen. Und ich erinnere mich an den Moment, als wir am Rand des Damms an der stürmischen See entlangkamen und die Steine unter den Rädern bröckelten.
Zhenia fuhr ruhig, denn sie wusste: Der Damm wird halten. Heute war sie als Wärterin eingeteilt, und ihr Vertrauen übertrug sich auf mich. Sollten doch Salz und Wasser nach Belieben am Boden nagen und der Wind den Sand auskratzen. Der Damm würde halten. Trotz Erdrutschen, Rissen, Zerstörungen. Der schmale Weg oberhalb der Klippen führte uns nach Hause.