ZHENIA BEREZHNA

Nicht über den Krieg


Translator
Christine Hengevoß
Der offizielle Soundtrack zum Buch Buk Annuk - Jittia
Stopp →
Spielen →
Der Krieg beginnt
Kiew, Februar 2022
Es ist der frühe Morgen des 24. Februars. Ich schlafe unruhig in einer Mietwohnung in Kiew. Am Tag zuvor tat mir das Herz weh, ich musste den Arzt anrufen. Nach Putins Ansprache hatte ich mit Moskauer Freunden gechattet, sie wollten mich beruhigen: Zhenia, niemals, unter keinen Umständen, selbst wenn es ganz schlimm, ganz übel kommt. Niemals wird im Jahr 2022 ein Krieg beginnen. Nicht in der Ukraine, mitten in Europa, nicht in der Stadt, in der wir an einem Oktoberabend spazieren waren, uns dabei Lippen und Bäuche wärmten mit Kirschglühwein und Walzer tanzten mit Hut, Stock und Schirm in der Dämmerung, wobei unsere Schatten in die Knie gingen bei angedeuteten Knicksen.
Erinnere dich doch an die goldschimmernde Folie aus Kastanienblättern unter unseren Füßen, Zhenia … In der dumpfen Herbststille zerstreute sich ihr Rascheln wie das Läuten einer Kirchenglocke. Der Himmel blaute mit den Kuppeln der Wladimir-Kathedrale, die mich schon immer an einen Zufluchtsort für Astrologen und rebellische Feuergeister erinnert hat. Nicht umsonst wird der Eingang vom schrecklichen Engel der Gerechtigkeit bewacht, er hat eine Waage in der Hand und ist zornerfüllt, gleich Luzifer … Nein, Zhenia, nein zum Krieg.
Schau, da singt ein Straßenmusikant wie Orpheus, streichelt mit den Fingern die Saiten. Deine Lieblings-Metrostation – „Soloti Worota“. Von dort am Jaroslaw-Denkmal vorbei - ach, diese mongolischen Wangenknochen – schnell, nimm dir ein Pferd und galoppiere davon, bis zum Glockenturm der Sophienkathedrale, gehüllt in blauen Atlasstoff und feine Spitze. Was liegt dir auf dem Herzen, du Schöne?
Masken, Akanthusblätter, gelockte Amorköpfe, Adler, Medaillons, Weinlaubranken …
Glaubst du an den richtigen Gott?
Ich glaube wie ich kann … Hier hast du den Großfürsten von Kiew, Wladimir Swjatoslawowitsch, falls du Zweifel hast, und den Apostel Andrej Perwoswanni, und auch Timofej und den Erzengel Raphael … Sieh sie dir an, Zhenia, und vertraue: Nie und nimmer kommt Krieg …
Und weiter dann entlang des zusammengesunkenen Michaelklosters, um für einen Augenblick das samten grüne Kupfer auf dem Hut von Bohdan Mychajlowytsch Chmelnyzky zu bewundern, des Hetmans des Saporoger Kosakenheers, über den Wladimir-Hügel … Der Dnjepr rauscht strömend, wie er es seit Jahrhunderten tut. Was bergen die schlammigen Tiefen seiner Ufer: Boote, Drakkare, andere Überseeschiffe?
Und dann über die Künstlerallee auf dem Andreassteig. Kränze, überaus schön, wie mit Blut, mit Schneeballbeeren gesprenkelt, schmückende Rosenbänder, kornblumenblaues Band. Hemden, tadellos geplättet und mit zarten Kreuzchen bestickt - rot, schwarz, rot, schwarz … Töpferware, gebrannt am Karfreitag im Feuer auf dem Kahlen Berg – senfgelb und rau, fast kitzelt sie. Nimm doch einen Kaffee, oder einen Iwan-Tschaj, oder Kakao aus der Schokoladenmanufaktur auf dem Andreassteig 2B.
Halsketten-Leinenbeutel-bestickte Handtücher … Alles berühren, anprobieren, sich vor dem Spiegel drehen, hineinstarren, als sei es ein Gemälde, auf dem das uralte und das junge Kiew atmen, flüstern, einem ins Gesicht lachen. Wo jeder Stein etwas erzählt - fürstliche Gemächer, spitze Gotik, ukrainischer Barock … Schicht um Schicht – Kunststoff und Beton stanzen das Straßenantlitz. Das pralle Leben, die schwankende Leichtigkeit des Seins, oder nicht?
Komm zur Besinnung, du Dummerchen, und schlaf ruhig, was für einen Krieg sollte es geben?
Aber der sorglose Schlaf läuft mir davon. Im Frösteln der Morgendämmerung dann ein schreckliches Läuten – Schwester und Mutter meines Mannes rufen an. Charkiw. Raketenexplosionen. Steh auf, Zhenia, deine Welt ging unter, der Krieg hat begonnen.
Innerhalb von dreißig Minuten packe ich einen „Notfallrucksack“. Pässe, Geld, Tabletten, ein Laptop mit allem Erschriebenen, Erlangten, eine Festplatte, Ladegeräte, Kontaktlinsen – am Vortag habe ich ein neues Paar bestellt; die Unterlagen für die Wohnung, unsere erste: im Viertel Winogradar, dritter Stock, fast siebzig Quadratmeter Hygge, Licht und Schönheit, mit Ankleidezimmer und Bad, Gästetoilette, einer geräumigen Wohnküche, wo man gemeinsam kochen und liebe Gäste empfangen kann … Es wird nie zur Wohnungsübergabe kommen. Keine Aushändigung der Schlüssel am 29. März, kein Sekt, kein Geruch nach Estrich, nach frischer Tünche an den Wänden. Keine Tränen der Verwunderung - haben wir jetzt wirklich unsere eigenen vier Wände?
Ich zögere, habe keine Ahnung und stecke die Papiere in das hintere Rucksackfach. Dann noch eine Taschenlampe, Monatsbinden, Ersatzwäsche. Wasser - zwei Feldflaschen; Bananen (ich hasse sie!) - neunundachtzig Kalorien pro hundert Gramm, sie lassen sich selbst bei Krämpfen, bei Übelkeitsanfällen leicht hinunterschlucken.
Ein eBook Reader, ein Tablet für meinen Mann - Symbole des vergangenen Lebens, in dem es Texte und Filme gab. Ein Elektroschockgerät. Wie funktioniert das? Nimm es aus der Hülle und drück auf den Knopf, wenn sie schießen, wenn deine Fenster verrußt werden durch Splitter russischer Raketen und sich Häuserwände wie ein Kinderbuch aus Pappe zusammenfalten … Drück, bis das elektrische Zwitschern alles übertönt - das Maschinengewehrrattern, die Schreie der Menschen und das Rumpeln von Schützenpanzerwagen hinter Obolon, das immer näher kommt: erst sind sie an der Ringstraße, dann schon an der Poliklinik, dem Insomnis VR Club, und schließlich zermalmen sie die Blumen unter den Balkonen.
Dann die Katzen: Katzenklo, Streu, Teller, Spielzeug, Fressen … Reisedecken, damit Ischtar draußen nicht friert, die Transportboxen. Sigurd ist eine Türkisch Angora, der dicke Pelz ist zum Februar noch nicht ausgedünnt. Aber Ischtar ist eine Bengalkatze, mit muskulösem Körper, wuchtigem Kopf, starken Pfoten und ganz kurzem Haar, die erkältet sich leicht, kriegt Blasenentzündung. Wie soll man ihr dann Pillen und Spritzen geben in einem Luftschutzbunker?
Auch ich fürchte mich vor einer Blasenentzündung. Letztes Jahr war es qualvoll: Fieber, Übelkeit, die Quecksilbersäule bei vierzig, Krankenwagen, zwei Wochen Bettruhe. Damit sich dieser Albtraum nicht wiederholt - was weißt du schon von den Schrecken, Zhenia? – nehme ich für Sergej und mich warme Schlafsäcke, Pullover und Wollsocken mit. Sie retten einem vorm Unglück, aber nur so lange, wie sich das Unglück nicht auf das Universum ausdehnt.
Dabei wurde mir vor zwei Wochen ja eine Evakuierung angeboten - nach Lwiw oder nach Schweden, Koffer packen, Boiler abschalten, Borschtsch im Kühlschrank aufessen, den Kaltwasserhahn um 90 Grad drehen, um den Nachbarn Flut und Flammen zu ersparen. Ich habe mich nicht gerettet. Stattdessen ging ich ins Kino, um Agatha Christie zu sehen, kaufte ein neues Kleid, Blumen und eine Tischdecke mit Zitronen drauf.
Also musst du jetzt herumlaufen, schlaftrunken, körperlos durch die Luftangriffe, durch den scharlachroten Feuerschein der Raketen – dem Morgenrot vorm Morgenrot am linken Dnjepr-Ufer.
Schock, keine Panik, Atemnot, Übelkeit. Das Herz krampft – klopft im Hals. Gewaltsam schlucke ich immer wieder, um mich nicht zu übergeben, nicht die Toilettenspülung zu betätigen. Aus den Augen kein Tränchen … Kiew, Odessa, Charkiw – sie feuern auf militärische Einrichtungen, Flughäfen, Luftverteidigungssysteme. Aber doch nicht auf friedliche Menschen? Nicht auf Menschen?!
Gegen sieben Uhr gibt es Nachrichten. Russische Föderation, Angriff, bei Sirenengeheul sofort in den Luftschutzbunker begeben … Fieberhaft google ich nach Links. Heizräume, Keller, Tiefgaragen. Bunte Punkte vor den Augen. Die Katzen toben, sie sollen erstmal in der Wohnung bleiben. Die Verwandten meines Mannes haben ihre Sachen ins Auto gestopft und sich in den Stau eingereiht, um Charkiw zu verlassen.
Nachdem ich in der Tiefe meiner toten Kehle meine frühere Stimme ertastet habe, rufe ich Kiewer Freunde an.
„Anja, alles in Ordnung? ‚Notfallrucksack‘, Geld, Medikamente, Wechselwäsche, Pässe … Sascha passt auf Ginny auf, er verträgt sich mit dem Hund … hier hat es auch gerumst, hab keine Angst, fahr nach Kirowohrad … Achte auf die Sirenen, melde dich …“
Gegen acht gehen wir, mit Taschen behängt, zur Tiefgarage hinunter. Sie ist auf der Karte als nächstgelegener Luftschutzbunker angegeben. Frost und Dämmerung. Der rettende Gedanke, dass es schnell vorbei sein wird - durch Verhandlungen. Aber nun schlaf erst einmal auf dem zusammengerollten Schlafsack, ich wache. Aber setz dich in die Nähe des Ausgangs: Wenn wir verschüttet werden, erstickst du, bevor die Rettungskräfte die Betonbrocken weggeräumt haben.
Ich schlafe, an meinen Rucksack geklammert, und höre das Dröhnen: Kiew, Odessa, Charkiw – Flugzeuge brennen.
Man kann von nirgendwo wegfliegen. Die Sirene heult alle zwanzig Minuten. Sobald es dämmert, rufe ich zu Hause an. Mama, liebe Mama, uns geht es gut. Kein Wort darüber, dass eine abgeschossene Granate über der Jordanskaja und Darnyzja vorübersaust. Es gibt nichts zu befürchten, ich habe vier Meter Beton und das Gerippe der Armierung über mir. Hier ist es sicher, ein Steinwurf bis nach Hause. Sergej und ich werden abwechselnd nach den Katzen schauen und anrufen. Ich habe einen Elektroschocker und einen Pfizer-Booster gegen Corona. Ich werde an keiner Krankheit sterben, Mama, sondern an etwas anderem.
Ein Albtraum von Wirklichkeit – die Ringstraße, hypnotisierend, zähflüssig, wie frischgeteerter Asphalt - nicht abzuwaschen, nicht zu reinigen. Haus - Tiefgarage, Haus - Tiefgarage, wir laufen sprungweise: ein Lebenszeichen an die Eltern, den Kefir austrinken, die aufgeregten, zerknirschten Katzen füttern.
Ich bin so müde. Dreimal laden wir die Taschen auf dem Flur ab, reißen uns Jeans und Pullover herunter und fallen ins ungemachte Bett. Doch die Sirene stiehlt die Träume und die gerade wiedergewonnene Körperwärme, Herzschlag, Hunger und Durst.
Aufstehen (hysterisch), achter Stock - Beine in die Hände und ab unter die Erde! Wird man getroffen – verdampft man zu Nichts, wie eine Schnecke in der Sonnenhitze!
Wo ist die Sonne, wenn man von ihr träumt? Die Finger sind taub vor Kälte, da helfen auch die Decken und die Thermounterwäsche nichts. Der scharfe Benzingeruch in der Tiefgarage vermischt sich mit der stechenden Luft und schmirgelt die Kehle zu einem heiseren „cha“. Ich huste. Würge an den Bananen. Allerdings nickt man so nicht ein.
Als es Nacht wird, lesen wir von den ersten getroffenen Wolkenkratzern, von Verwundeten. Es kommen immer mehr Leute unter die Erde, die Ausgangssperre ist strenger. Nach Einbruch der Dämmerung ist das Licht auszuschalten, darf nicht draußen herumgelaufen werden! Russen sind in der Nähe - sie hören, spüren es, sie kommen, greifen zu, töten …
Die Katzen müssten in Sicherheit. Wir nehmen sie, sie sind fassungslos, umwickeln die Kunststoffbox mit Synthetikstoff, stopfen die Ritzen gegen Zugluft zu. Sigurd fügt sich – er wurde auf der Straße aufgelesen, ist nun wieder draußen, er erträgt es sanftmütig, gewärmt von meinem Atem. Aber Ischtar kommt aus der Zucht, aus der Fülle – sie zittert, zischt erschrocken.
Ich halte das nicht mehr aus und gehe zum Depot der Wächterin. Kein Zimmer ist das - ein Kämmerlein. Menschen, wie in einer Krypta bei einer Beerdigung: Mütter mit Kleinkindern und Babys schlafen abwechselnd auf einer Pritsche in der Ecke, während andere sich über das Radio beugen. Die Radiowellen zischen und wimmern fürbittend. Dafür ist es warm bis zum Umfallen. Da knistert als Wärmequelle ein alter Heizstrahler. Als ich Kind war, hatten wir so einen. Aber ich hatte eine Decke darauf gelegt - aus Versehen, aus Dummheit, und der Stoff war in Flammen aufgegangen. Danach war der Strahler weg.
Vorsichtig schreite ich über die Schwelle, mache die Tür zu, damit die stickige Hitze nicht entweicht.
Die Wächterin in einem schwarzen Schal über der Brust, die hier das Sagen hat, reckt mir ihr ikterische Maskengesicht entgegen.
„Was willst du?“
„Eine gute Nacht wünsche ich, Tantchen, entschuldigen Sie die Aufregung, könnten Sie die Katze zum Aufwärmen nehmen? Sie ist friedlich. Draußen ist es kalt und es wird geschossen – schauen Sie, wie sie zittert.“
Ihre Kohleaugen blitzen auf, die fadendünnen Lippen füllen sich mit Blut.
„Die nehmen wir, Töchterchen, warum denn nicht? Und du? Kommst du zurecht? Mit den Schützenpanzern, dem Februar, mit dem Hagel der Raketenwerfer, den Übelkeitsattacken, dem Schüttelfrost, den ballistischen Raketen?“
„Nehmen Sie die Katze. Sie hat keine Unterwolle, bis zum Morgen wäre sie sonst durchgefroren.“
„Und du? Krepierst du nicht auf dem nackten Beton, in einem Bunker, im Bahnhofsgedränge, im eisigen Zugabteil,
im Sommerhaus: Tür ohne Glas, Reif an den Wänden der Veranda, Schneeverwehungen bis hoch zu den Fenstern – bedrückende Hügelchen?“
Ich schweige.
„Bleib doch bei uns … Hinter dem Vorhang in der Ecke ist eine Koje - schmal, aber wenn man ruhig daliegt, geht es. Und lies nicht über abgetrennte Arme und Beine, Ruinen mit der Aufschrift ‚Kinder‘ in staubigen Betontrümmern, über die Gequälten-Vergewaltigten, über Großmutters Haus, in dem du aufgewachsen bist, das es nicht mehr gibt …“
Der Heizstrahler erlischt. Die verbrauchte Luft verdickt sich, ist drückend wie eine Steinplatte … Ich sehe weder den Vorhang noch die Frauen, die sich auf Hockern krümmen - nur Gestalten mit den Höhlungen von Mündern und Augen. Ich ertaste die Schwelle mit meinem Fuß.
„Nehmen Sie Ischtar auf, bitte. Bis zum Morgen, für eine Weile … Und ich gehe …“
„Geh“, winkt die gelangweilte Wächterin ab, klickt den Schalter des antiquarischen Kamins. „Und mach die Tür zu - es zieht, ich hab Kinder hier!“
Ein Morgen ohne Morgen. Feuchte Kälte und Dunkelheit mischen sich mit dünnem, bleichem Grau, das macht blind und taub, lässt einen das Gefühl für Zeit und Raum verlieren.
Vor Anspannung – bloß nicht schlafen, Rucksäcke bewachen, Beine vertreten, nicht die Wand hinunterrutschen – schmerzen die Muskeln an den Oberschenkeln und entlang der Wirbelsäule. Mir ist in allen Organen gleichzeitig übel - Herz, Magen, Leber, aber ich habe keine Angst vorm Erbrechen, dazu reicht die Kraft nicht.
„Basta!“, schreit Sigurd benommen.
Er hat sich die Nase am Eisengitter der Transportbox aufgerissen, die Schnurrhaare sind abgebrochen, die Pfoten durch Stäbe gestreckt, sie schlagen nach mir. Er will trinken, fressen und aufs Katzenklo, unters Bett, Wärme und Stille – ohne Maschinengebrüll, Motorradrattern, ohne panische Stimmen. Sigurd will nach Hause.
Ich auch.
„Wir bringen die Katzen weg …“ Ich versuche aufzustehen, aber die Wände schwanken, der Boden verzieht sich zu Wellen. „Und wir machen frischen Tee. Unsere Thermoskanne ist kalt …“
„Und dann?“
„In den Keller des Sechzehnstöckers. Da gibt es Rohre mit heißem Wasser, die wärmen …“
„Und bei einer Explosion gibt’s eine Überflutung?“
„Ja …“
„Mit kochend heißem Wasser?“
„Ja …“
„Und es gibt nur einen Ausgang?“
„Ja … Aber du kannst dich an die Betonwand legen. Das ist ungefährlicher …“
Wir schleppen Sigurd und die verschlafene Ischtar in die Wohnung, erhitzen Wasser, nehmen eine Isomatte, ein Bündel
Bananen und ziehen um in den Keller. Tag …
Die Betonwände sind besetzt – allerlei Menschen sind hier, zum Ausgang kriecht man durch Gassengänge, entlang der Sehnen der Rohre, die in einen Watteleib gehüllt sind. Wir suchen eine Luke, damit wir im Falle die Rettungskräfte rufen können, und breiten die Schlafsäcke unter dem Mauerwerk aus …
Es wird gutgehen, das Hochhaus steht in der Mitte des Hofes, das wird wohl kaum getroffen.
Der Keller ist ein eigener Mikrokosmos. Die Menschen haben sich hier häuslich niedergelassen, eine unreinliche Heimeligkeit geschaffen: Paletten, Kissen, Teppiche, Wachstuchsäcke mit Lebensmitteln, Segeltuchklappstühle, Wasserkocher, Lampen, Cracker, Hauslatschen, Konserven. Sie gehen hoch ins Treppenhaus zum Rauchen, um Nachrichten zu lesen, Sirenen und Schießereien auf dem Minsker Massiv zu hören.
Die Knie an die Brust gezogen, versuche ich auszuatmen, Schultern-Brust-Lenden zu spüren, um sie zu entspannen, um etwas Schlaf zu bekommen. Aber der Körper presst sich zusammen, ist ungehorsam.
Russische Landetruppen wurden in Obolon ausgesetzt, donnerten mit Maschinengewehren, während ich mit Mama sprach.
Tra-ta-ta – munter, erbost, wie im Film, nur mit dem Unterschied, dass es am Laden krachte, wo ich immer Brot kaufe. Die Sorte Belorusski oder Jurjewski, in Scheiben geschnitten, einen halben Laib. Und eine Tube mit gezuckerter Kondensmilch.
„Shenetschka, was ist das?“
„Ein Kind hat ein Feuerwehrauto mit einer Alarmsirene in den Keller mitgeschleppt, fährt damit über den Boden, macht den Leuten Angst …“
Ich lüge nicht – ich verschweige nur etwas. Irgendein Junge fuhrwerkt tatsächlich mit einem roten Feuerwehrauto herum. Von diesem Gequietsche erblasst der Keller, stöhnt, findet aber keine Worte, um zu erklären: Das ist ein schlechtes Spielzeug. Falls du groß wirst, Junge, falls deine Eltern dich nicht im Haus auf dem Dorf bei deiner Großmutter versteckt haben - in Irpin oder Butscha, wirst du dich an die Geräusche der Sirene erinnern und nicht mehr damit spielen.
Aber es kann aber auch passieren, dass dein Auto beschossen wird, während ihr Kiew verlasst, oder dass dich eine Rakete am Bahnhof an den Gleisen erwischt, kurz vor der Abfahrt des Express-Evakuierungszugs Kiew - Iwano-Frankiwsk. Ein Gemenge aus Metall, Blut, Knochen - tropf-tropf durch die zerquetschten Waggons …
Nein, hör nicht auf ihr zorniges Zischen, werde Feuerwehrmann, Arzt, Rettungssanitäter … Werde, was immer du willst, wenn du groß bist. Ohne Raketen, ohne einen zerquetschten Zug, in einer fernen, ganz fernen Zukunft … Was willst du da werden?
Der Krieg draußen - das ist schrecklich, erbarmungslos. Aber von innen betrachtet, verliert er seine Abstraktheit, zersplittert sich in eine Reihe konkreter Ereignisse, Empfindungen, die oft körperlich sind, frei von jedem Pathos, mit dem es sich so gut räsonieren lässt nach einem ausgiebigen Abendessen zu Hause auf der Couch mit Sofakissen, die Füße in Pantoffeln gesteckt.
Für mich sind die ersten Kriegstage furchtbar wegen des Schlafmangels, des Bibberns. Und je öfter die Sirenen über Kiew heulen, umso mehr verzerrt sich die Realität in meinem überlasteten Kopf.
‚Vielleicht sollte ich sie einfach schießen lassen‘, denke ich, reiße mich vom Körper los, schaue von der Kellerdecke hinunter auf mich in Embryohaltung - in Skihose, Fäustlingen, Mütze bis zur Nase, auf die staubige Unterlage aus Schlafsäcken und Decken. ‚Alle können sie nicht auf einmal töten. Wir werden nicht getötet, weil wir uns schlafen legen.‘
‚Und wenn sie dich erwischen?‘, streite ich mit mir selbst. ‚Auf der Nordbrücke ist die ukrainische Luftabwehr, von dort ist es ein Raketenschuss weit bis zu unserem Haus, sie feuern und machen die Jordanskaja platt zusammen mit dir, die du unter der Erde schläfst …‘
Noch ein, zwei ruhelose Tage - und dieser Gedanke wird mich nicht mehr alarmieren, aber noch bin ich bei Kräften, schätze das Leben höher als den Schlaf.
Ich stehe auf und schüttle meinen Mann.
„Vierzig Minuten bis zur Ausgangssperre. Wir schnappen uns die Sachen, die Katzen und sausen zum Bunker unter deinem Büro. Dort gibt es Licht, Wasser und Telefon, bekannte Gesichter, einen Wachdienst – wenigstens irgendeine Gewissheit, die Illusion einer Obhut …“
Der Taxifahrer kommt nicht sofort. Die Brücken sind blockiert, durch Kiew fährt unsere Technik und die des Feindes. Nicht jeder hat Lust, ein Risiko einzugehen. Aber wenn man den Standardpreis mit Sechs oder, sagen wir, mit Zehn multipliziert, scheint die Gefahr nicht mehr so groß. Und schon fährt man los, den Kofferraum vollgestopft mit Rucksäcken, Tüten, auf den Rücksitz sich selbst und die Katzen gequetscht.
„Wir fahren über Nebenstraßen“, warnt der Fahrer und biegt vom Stepan-Bandera-Prospekt ab in die Freudlosigkeit der Seitengassen. „Auf der zentralen Straße gibt es einen Kontrollpunkt, das Militär lässt niemanden durch.“
Wir stimmen schweigend zu, spähen nach Panzern und Raketenwerfern hier, inmitten der Fremdheit der durch den Alarm vom Strom getrennten Chruschtschow-Bauten. Nichts dergleichen. Die Straßen sind leer, als wären sie Kulissen nach Dreharbeiten. Hätte ich gewusst, dass ich diese Wolkenkratzer zum letzten Mal sehe, wäre ich ihnen gegenüber sanfter gewesen, hätte nicht gemurrt über die Huckel im Asphalt, die Muffigkeit in den Hauseingängen, die Schäbigkeit und Graffitibeschmiertheit der Wände.
Aber ich weiß nicht, dass ich Kiew am nächsten Tag verlasse. Und nie wieder ein Gewitter auf dem Balkon meiner Wohnung in Obolon erlebe, mich nie wieder mit den Katzen auf die Fensterbank setze, um mich in der Sonne zu wärmen. Deshalb möchte ich einfach nur das schiefe Liniengewirr der Gassen hinter mir lassen, will hinunter in den Bunker unterhalb des Büros – der ist geschützt, gut ausgestattet, dort will ich abschalten.
Nach der erzwungenen Schlaflosigkeit und dem Dauerfrost der Tiefgarage kommt mir der neue Unterschlupf wie das Paradies vor. Es gibt Hängematten an Streben, Strom und ein Radio, Internet, Toiletten, warmes Essen! Und zwischen den Alarmen kann man hoch ins Büro und sich duschen!
Wir quartieren die Katzen im Büro meines Mannes ein, stellen das Katzenklo und die Teller dazu, breiten das Spielzeug aus, damit sie die Nacht ruhiger in diesem Rigipskäfig verbringen können. Die Katzen sind missgelaunt, für sie ist es zu eng und stickig, die Alarmsirenen sind hier deutlicher zu hören. Es tut mir leid, sie hierlassen zu müssen, aber wenn ich jetzt nicht schlafe, nicht die Kontaktlinsen herausnehme, die fest an meinen Augäpfeln haften, werde ich blind und verliere den Verstand. Dann hätten Ischtar und Sigurd kein Frauchen mehr, das sie beschützen kann.
Also gehe ich unter die Dusche, ignoriere das Pfeifen der Sirenen, ziehe das Silikon-Hydrogel von Iris und Pupillen, koche eine „Mivina“, trinke zwei Schluck Brühe, kämpfe gegen den Brechreiz an und spüle die Nudeln schließlich in der Toilette hinunter. Ich rolle mich in eine Hängematte und wickle mich in den Schlafsack.
Eine Minute später erlischt das Licht im Zimmer, das Radio schaltet sich ab. Es ist nur zu hören, wie die Jungs von der Territorialverteidigung über die Flure patrouillieren. Der Anblick von schusssicheren Westen und Helmen, der Maschinengewehre in ihren Händen sollte mich beruhigen. Aber ich schließe die Augen nur noch fester, um die Bajonette nicht zu sehen, die als Schatten hinter den Schultern der Verteidiger hervorragen.
Zok-zok – klirrt die soldatische Montur.
Morgen beginnt ein neuer Tag. Wir werden herausfinden, wie es weitergehen soll, aber im Moment ist es besser zu verschwinden. Bis zum Morgen bin ich weg - niemand kommt mich holen. Nur einer von der Territorialverteidigung, ein Mann mit Kampfanzug und Maschinengewehr wird prüfen, ob meine Atmung ruhig ist, und er wird die Decke richten, damit ich heute nicht friere. Mir stehen viele kalte Nächte bevor.
Fische am Himmel
Berlin, September — Oktober 2022
Irgendwas ist mit den Zügen in Berlin passiert. Um vom Alexanderplatz nach Bernau zu kommen, muss ich mit der U-Bahn bis Senefelderplatz fahren, dann lange auf den Zug nach Pankow warten und von dort aus die Stadtbahn erwischen – die S2.
In der BVG-App heißt es knapp: Bauarbeiten auf der Strecke, entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, planen Sie zusätzlich Zeit für Wartezeiten und Umstiege ein.
Und ich plane sie ein, kalkuliere zusätzliche zwanzig Minuten der Ewigkeit für einen Zwischenhalt. Als wäre es ein kosmisches Vakuum, ein Zwischenraum, eine Lücke zwischen zwei Segmenten der Realität, die sich aus unbekanntem Grund auf verschiedenen Ebenen des Seins befinden. Willst du von der einen in die andere gelangen? Willkommen in der Vorhölle. Hier gibt es keine ewige Qual, aber auch keine himmlische Gnade. Ein idealer Zufluchtsort für Dichter, Philosophen, Helden, denen es an christlicher Demut fehlt, und für Flüchtlinge.
Ich fahre jeden Tag zu einem Intensivsprachkurs nach Berlin und zurück, deswegen bin ich ständig am Senefelderplatz. Ich schlendere unter der Erde zwischen den schattenhaften Passagieren umher, geblendet-taub, darüber nachdenkend, wohin der Schienenfluss jene tragen wird, die freiwillig diese Dunkelheit betreten haben. Hier der Beweis: ein Abdruck schmaler Ziffern auf dem Rand des Tickets, 15. Oktober, 15.15, Zonen ABC. Bist du bereit, dem Licht zu entsagen, dich in der Nichtexistenz wiederzufinden?
Ich bin bereit!
Statt Granatapfelkerne zu schucken, die Wegzehrung der Toten, entwerte ich die Dauerfahrkarte – bringe immer neue Kerben in die Strichmarkierungen auf festem Papier.
Habe ich Angst, steckenzubleiben, die Richtung zu verwechseln? Noch nie hat mich der gelbe Wagen der U-Bahn im Stich gelassen. Ratternd und mit den Türen schlagend, auf denen eine Verzierung mit dem Brandenburger Tor angebracht ist, schleppt er mich gewissenhaft an die Oberfläche, immer dienstags, montags, donnerstags und mittwochs. Freitag ist Ruhetag – da gibt es keinen Deutschunterricht an der Sprachschule, und ich finde andere Orte für die Traurigkeit.
Heute ist Donnerstag. Der Zwischenraum Senefelderplatz liegt hinter mir. Ich bin in der S-Bahn, die S-Bahn rauscht durch das Kupfer und Gold der Brandenburger Wälder. Ihre schwirrende Schönheit brennt mir in den Augen. Alles geht durcheinander, mein Waggon ausgenommen, der folgt strikt der Route: Karow, Buch, Zepernick … S2, Richtung Bernau.
Ich huste unterdrückt in meine Maske. Die Erkältung - das Zeichen der Zuneigung der Nordsee zu mir – ist noch nicht abgeklungen. Es tut mir leid, mich von seiner ungesunden Liebe zu verabschieden, aber von der Anspannung verkrampfen sich meine Bauchmuskeln. Zusätzlich zum Husten würge ich an Tränen. Die Tränen erschrecken die Sitznachbarn im Waggon mehr als das trockene Keuchen meiner gequälten Lungen.
Sicher denken die Leute, ich hätte Tuberkulose. Wir sind bald da, deswegen fange ich an zu heulen, verschlucke mich dabei. Oder ich habe Covid – schwerer Verlauf, meine Augen glänzen fiebrig, und die Finger sind kalt, wie bei einer toten Mawka mit einem Loch im Rücken, aus dem die Eingeweide quellen.
Ich taste meine Wirbelsäule ab. Kein Loch da. Auch kein Covid - ich habe einen Test gemacht. Dafür brummt mir eine weitere Woche der Kopf - leise und stetig, wie das Geräusch von Strom in Hochspannungsleitungen. Das stört nicht weiter, aber es umhüllt mich, verwandelt sich aus einem äußeren Reiz in eine Sinneswahrnehmung, wie Sehen oder Hören. In einen Fühlsinn des Schmerzes über das verlassene Zuhause.
Ich fahre nach Bernau, fühle mich dort aber nicht willkommen. Letztes Wochenende habe ich im Bett gelegen, bis zur Auszehrung abgeküsst von den Winden Schleswig-Holsteins – mit Schnupfen und Halsweh. Niemand kam rein, um nach mir zu sehen oder zu fragen, ob ich Fieber habe. Ab und zu wird in meinem Zimmer die Heizung abgestellt, sogar das Passwort für Netflix wurde geändert, obwohl wir ein Premium-Abo haben. So ist das.
Immer noch suche ich eine Wohnung, einen Job, Menschen, finde aber immer nur die Vorhölle mit Dutzenden von wortlosen Figuren. Wohin soll man sich in einem fremden Land wenden, wem seinen Schmerz eines gebrochenen Herzens bringen, die Angst um geliebte Menschen, die Wut auf diejenigen, die den Krieg begannen? Wer bleibt bei einem, wenn die strahlende Maid nicht mehr eine über die Wiesen schreitende Maigöttin ist und sich in die Herrscherin der Unterwelt, der Zerstörung und des Todes verwandelt?
„Wer?“, fragt Ludwig nach und reicht mir den Wein. Trotz meines rätselhaften Englischs hört er mir aufmerksam zu.
Ich nehme einen Schluck. Ich bin 34 geworden, das ist nur ein winziges Glas Rosé, aber nach der Vorhölle, der Schwermut, der Müdigkeit wirkt er wie ein Beruhigungsmittel. Das Zimmer geht aus den Nähten, durch die Risse kriecht graue Watte. Die Sessel um den Tisch beginnen fußlahm zu tanzen. Spiralförmig drehen sich die Stufen, als wir auf hinausgehen, wie ein Karussell drehen sich die Friedhofstore.
„Wohin bringst du mich, Ludwig? Ich muss zum Potsdamer Platz. Von dort fährt um zehn Uhr nochwas der Regionalzug nach Bernau, wo ich nicht willkommen bin, wo mich niemand erwartet. Wir müssen uns beeilen, aber ich kann nicht gehen. Lass uns eine Minute stehenbleiben im gedämpften Schein der barockartigen, luftigen IKEA-Leuchter. Ich sehe ihre baiserzarte Silhouette in den Portalen der Fenster, ich höre, wie Musik spielt in den Berliner Wohnungen, die in eine dämmrige Dunsthülle gepackt und mit schläfriger Ruhe ausgelegt sind. Lass mich in der Yorkstraße. Wie in ein Bett will ich mich in einen Lichtstreifen legen und bis zum Morgen schlafen.“
Aber Ludwig mag die Idee nicht, unter den Balkonen zu übernachten. Die Bank, die Allee und der alte Friedhof, auf dem die Brüder Grimm begraben sind, passen ihm auch nicht. Ihre Gräber sind zu asketisch - sie haben mich enttäuscht.
Auf dem Weg zur S-Bahnhofstation schaut Ludwig auf seine Uhr und dreht sich um.
„Wir schaffen es nicht bis zum Potsdamer Platz.“
„Nein?“ Ich halte mich an seiner Hand fest, weil ich mich an jemandem festhalten muss, um nicht zu stolpern, nicht in den schwankenden Abgrund durchzubrechen.
„Ich habe ein Auto vor der Tür. Ich bringe dich nach Bernau.“
Bis Bernau sind es fast fünfzig Kilometer und genauso viel zurück. Es ist mein zweites Treffen mit Ludwig. Er sieht, wie ich nach einem einzigen Glas fast in die Vorhölle stürze, und doch ist er bereit, mit mir in diese Ferne zu zuckeln.
Sag nein, Zhenia. Atme tief durch, warte auf den Regionalzug nach Eberswalde und winke höflich zum Abschied.
Aber die Welt dreht sich, windet Laternenpfähle und Schaufenster um ihre Achse, saugt Licht aus Bars und Mansarden ein wie ein unersättliches schwarzes Loch. Ich fürchte, ebenfalls in den kosmischen Fleischwolf gezogen und in Atome gespalten zu werden, wenn Ludwig meine Hand loslässt. Also steige ich ins Auto, schnalle mich an, schließe die Augen.
„Fahr mich in die herbstliche Vorstadtnacht. Riechst du die Äpfel? Die gepflügte, süße Erde? Jemand hat Kübel mit Chrysanthemen für uns auf die Veranda gestellt. Schau die schönen Farben - gelb, scharlachrot, violett … schwarz-schwarz im Mitternachtssamt. Wir fahren über den Laubteppich der Straße, und die dunklen Umrisse von Windrädern bewachen unseren Weg, zwinkern uns mit ihren Lichtern zu. Lang-kurz, lang-kurz. Fünfzig Kilometer liegen vor uns – das ist ewig lang, um ihre Botschaften zu dechiffrieren. Ich notiere die Signale auf der beschlagenen Scheibe. Ludwig hat es nicht eilig …
Aber schließlich sind wir da. Und auch meine S-Bahn nach Bernau hält, fordert alle auf, die Waggons zu verlassen. Endstation.
Ich steige aus, schwankend vom Husten, der verkatert in meinen Schläfen nachhallt. Katzen füttern und zurück nach Berlin - wohin auch immer, bloß nicht zusammengekauert in meinem Zimmer liegen, bis es von der Morgendämmerung erfüllt wird, die zuerst vom Fensterbrett tröpfelt und dann über dessen Rand strömt, wie die Nordsee über einen Damm.
Ich habe gehört, dass es in Schleswig-Holstein früher einen speziellen Deichwärter gab. Bei stürmischem Wetter ritt er die Deiche ab und überprüfte sie nach Schäden, damit das Meer nicht die Bauernhöfe und Felder an der Küste überschwemmte. Ich brauche so einen Wärter. Jemand, der meinen Deich vor Chaos und Schwermut beschützt. Regelmäßig zerstören sie die Verteidigungswälle, die ich kaum schaffe aufzuhäufen, und spülen mir den Boden unter den Füßen weg. Dann bleibe ich im schmierigen Lehm stecken, bis zu den Knöcheln, an schlechten Tagen bis zu den Oberschenkeln. Das Salz frisst sich in mein Herz, es gibt so viel davon, dass selbst, nachdem ich mich aus dem Schlamm gezogen habe, sich innen alles rau anfühlt.
Nachdem ich Tee mit Zitrone und Ingwer und Hustensirup in mich geschüttet habe, gehe ich los, meinen Reiter suchen. Wenn es einen geeigneten Treffpunkt gibt, dann ist es Berlin. Heute ist die Stadt besonders wohlwollend – sie leuchtet mir den Weg. Vollkommen überraschend befinde ich mich mitten im alljährlichen Lichterfest „Visions of our Future“. Ich schlendere gebannt durch die Straßen, während Blumen und Nebel benachbarter Galaxien auf den Säulen des Brandenburger Tors erblühen, während grafischer Stuck von den Wänden der Humboldt-Universität bröckelt und sofort ein neuer, raffinierterer erscheint. Ich wünschte mir, ukrainische Städte hätten diese Technologie. Zack – und schon setzen sich die Brocken aus Fassadenziegel neu zusammen, schließen sich die Risse im Beton, überziehen sich mit frischer Farbe. Zack - und alles Tote wird wieder lebendig.
Niedergeschmettert von der Erkältung und der Lichtshow erreiche ich schließlich die Museumsinsel und verliere endgültig den Kopf. Direkt vor dem Berliner Dom schweben am Himmel riesige bunte Fische.
Für einen Beschützer ist es zu spät - das Meer ist über die Ufer getreten. Kein Wunder, dass ich mich so schwerelos fühle und mir gleichzeitig etwas auf das Trommelfell drückt, das Bild vor meinen Augen verschwimmt und die Geräusche aus der Ferne kommen. Ich habe den Moment verschlafen, als das Wasser meinen Damm durchbrach und das Weideland mit den Schafen unterging.
Ich werfe meinen Kopf zurück und schaue auf die riesigen Fische, die mit ihren Flossen wedeln, rosa, grün, blau aufblinken wie stromgespeiste Zitterrochen. Edel sieht das aus. Vielleicht sollte ich ein Fisch werden, die Schwerkraft überwinden, in den kalten und warmen Strömen umherwirbeln, transzendentes Licht ausstrahlen? Mich innerlich hohl machen, damit die Meeresmassen keine Macht über mich haben.
Das klingt befreiend, aber dafür muss ich die Vorhölle nicht im gelben U-Bahnwaggon verlassen, sondern in unbekannter Richtung, muss die helle Transparenz herbstlicher Plätze gegen die blasse Feinheit von Reispapier tauschen, aus dem Fische und Drachen gemacht sind. Für immer.
Nein, ich will körperlich sein! Ich will an der Kreuzung Friedrichstraße und Unter den Linden im Bernstein des Oktobers stehen - nicht verhärtet, sondern biegsam, und ich will fühlen, wie die neuen Schuhe von „Deichmann“ sich an den Absätzen abnutzen. Mich mit der Leichtigkeit von Spitze des Jugendstils anfüllen, mich als lebendiges Muster in die Fassaden von Häusern einweben, Wendeltreppen hinaufsteigen, dabei über das Geländer streichen. Mich bewegungslos in die Fenster von Cafés einfügen und dann jäh in die Sonne verwandeln, um die sich die Welt dreht.
Dafür muss ich zunächst etwas essen und mich aufwärmen. Selbst die Sonne braucht Energie, und ich erst recht. Danach wäre es schön, einen Unterschlupf für die Nacht zu finden – nicht eine in Dunst gehüllte Vorhölle, nicht die ephemere Pracht von Lichtillusionen, sondern ein echtes Zuhause.
Ich hole mein Mobiltelefon heraus, durchsuche die Kontaktliste. Und mit dem Alphabet der Windräder, das ich auf dem Weg nach Bernau dechiffriert habe, sende ich Signale: kurz-lang, kurz, jeweils dreimal wiederholt. Tausende von Jahren werden vergehen, bis mein Hilferuf die nächstgelegenen Planeten erreicht, aber vielleicht findet sich in dieser Stadt jemand, der näher ist.
Minute für Minute. Fischsilhouetten streben am Horizont hinauf - majestätisch gespenstische Geister über dem Riesendom. Die Tiefwasserströmung von Berlin trägt mich ein Stück in ihre Richtung. Ich greife nach Bänken und Laternenpfählen und tippe immer wieder auf das Touchpad: kurz, lang, kurz …
Das Telefon piepst, und bei den auftauchenden Nachrichten sehe ich:
„Zhenia, Liebe, komm. Ich mach dir Tee, oder ich hole dich selbst ab. Wo bist du?“
„Ich bin hier, umgeben von trügerischem Licht, im Epizentrum der Dunkelheit, unter unendlich viel Wasser im Reich der Geister, ich bin in der überfüllten Leere fremder Bahnhöfe, der distanzierten Ungemütlichkeit namenloser S-Bahnstationen - all dieser Allee und Straße, die zu einer einzigen Linie verschmelzen, mich hinausdrängen …“
„Alles klar. Siehst du die Straßenbahnhaltestelle? Stell dich unters Dach und warte. Ein Carsharingauto mit der Aufschrift ‚Miles‘ an der Seite.“
Ich warte … Statt der herbeigesehnten Reiterin kommen Straßenbahnen. Ohne Nummern und Kennzeichen auf der Anzeigetafel pirschen sie sich an den Bahnsteig heran wie hungrige Bestien.
„Los, fahr mit uns zum Senefelderplatz, zur Vergessenstraße, Unter der Erde … Dorthin, wo es unbeschwert und leicht ist …“
„Weg mit euch! Ich warte auf meine Reiterin, wir wollen woandershin.“
„Komm schon, du hustest und zitterst. Es ist fast Mitternacht, da kommt niemand mehr. Es ist die rechte Zeit herauszufinden, wohin unsere Wagen die verlorenen Passagiere bringen.“
Ich halte mir die Ohren zu, streite nicht mit den Trams, lasse sie davonrollen.
„Du wirst es bereuen!“, knirschen sie. „Jetzt sieht die Stadt noch aus wie ein Weihnachtsbaum mit Lichterkette, aber wenn es hell wird, um drei, vier Uhr morgens, ist es feucht und tot hier, wie auf dem Grund eines Brunnens. Da hilft auch kein Jugendstil mit Bögen und Erkern …“
Ich höre nicht hin. Ich warte …
Und da höre ich das Rauschen von Reifen auf dem Asphalt. Ein schwarzer VW mit weißer Aufschrift „Miles“ an der Autotür. Die Schatten der Straßenbahnen weichen vor ihm zurück wie vor einer Fackel, und ich laufe auf ihn zu und springe hinein. Zhenia, wie schön!
Morgen werde ich in einem sonnigen Zimmer neben dem Park aufwachsen, Frühstück für uns beide zubereiten. Wir werden Shakshuka essen und die Beine baumeln lassen, wenn wir auf den hohen Barhockern sitzen, und Fische und Straßenbahnen werden sich zerstreuen.
Im runden Spiegel in Zhenias Schlafzimmer zeige ich mich in Farbe und Volumen. Und ich erinnere mich an den Moment, als wir am Rand des Damms an der stürmischen See entlangkamen und die Steine unter den Rädern bröckelten.
Zhenia fuhr ruhig, denn sie wusste: Der Damm wird halten. Heute war sie als Wärterin eingeteilt, und ihr Vertrauen übertrug sich auf mich. Sollten doch Salz und Wasser nach Belieben am Boden nagen und der Wind den Sand auskratzen. Der Damm würde halten. Trotz Erdrutschen, Rissen, Zerstörungen. Der schmale Weg oberhalb der Klippen führte uns nach Hause.
All Rights Reserved. The rights to the photos used on this site belong
to the photographer - Maximilian Gödecke.
zhenia.berezhna@gmail.com