ZHENIA BEREZHNA

Das Lila Haus


Translator — Christine Hengevoß
Die Jungfer der Erkenntnis

's wächst eine Trauerweide übern Bach geneigt

Die grau ihr Blattlaub zeigt im Glitzerstrom.

Draus Kränze flocht sie phantasienvoll mit Hahnfuß,

Taubnessel, Maßlieb und dem Knabenkraut,

Das freizüngige Schäfer derber nennen,

Doch Totenfinger beim Jungmädchen heißt.

Dort auf die fallnden Zweige nun ihr Unkrautkrönchen

Zu hängen stieg sie hoch, als heimtückisch ein Ast

Brach, und hinab fiel ihre Kranz-Trophäe

Samt ihrer selbst in den weinenden Bach.

Ihr Kleid blies weit sich auf und meerfraun-gleich

Trug es sie hin, derweil sie Fetzen sang

Von alten Liedern, wie begriffsunfähig

Für ihre eigne Not, ja wie ein Wesen

Dort heimisch und hineingeboren in

Dies feuchte Element. Doch lange konnt‘s nicht gehn,

Bis dass ihr Kleid, schwer satt vom Wassertrunk,

Das arme Kind vom Liebesliederträllern

hinunter zog in schlammig-schwarzen Tod.


(W. Shakespeare „Hamlet“, Übersetzung Frank Günther)

Mein Vater, König der Könige, Herrscher über Hunderte von Weiden und Tausende von Herden, hatte drei Töchter, die seiner Größe würdig waren. Das heißt, fünf … Also, sagen wir, sieben, die Anzahl war ihm sowieso egal, ebenso wie ihre Talente, solange sie sich nur bescheiden und fleißig zeigten. Erfüllten aber die Schwestern seine Erwartungen einmal nicht, verlor Vater erst recht jedes Interesse an ihnen.


Die Namen meiner Schwestern waren Eva, Pandora, Ginevra, Lilith, Salome sowie Delila, die scheu war wie ein Mäuschen. Jede von ihnen besaß eine besondere, geheime Begabung, welche ihr aber nicht zu Trost und Freude gereichte, sondern einzig zu Missbilligung, als säße seit ihrer Geburt der Wurmfraß in ihrem Wesen und zeige sich immer wieder in ihrem Tun und Denken, so sehr sie ihn auch zu verbergen suchte.


Die Söhne des glorreichen Königs hingegen hatten es nicht nötig, über Schönheit, Verstand, Talente oder besondere Fertigkeiten zu verfügen. Sie wurden allein dafür geliebt, dass sie da waren, sie genossen Zuwendung und Nachsicht. Andreas und Petrus, Jakob, Johannes, Bartholomäus, Philipp und wie sie alle hießen: Es war ihrer ein ganzes Dutzend, und doch fand der Vater Zeit und Zärtlichkeit für jeden einzelnen.


Auch mit mir hatte er einmal gesprochen, doch war es lange her, und ich konnte mich dieses Gesprächs kaum entsinnen. Meine Erinnerung ist voller Narben, sie gleicht einer Leinwand, die man mit einer Schere kreuz und quer zerschnitten und dann wieder zusammengenäht hat. Allerdings konnten wir die väterlichen Gebote jederzeit in den Schreiben finden, die er für meine Schwestern und mich zusammengestellt hatte. Und an der Sorgfalt, mit der die Worte ausgesucht und zusammengefügt waren, ließ sich leicht die elterliche Fürsorge erkennen... So wurden wir als Kinder unterrichtet, wobei ich als schlechte Schülerin galt.


Statt dankbar in die Zukunft zu blicken, die mich erwartete, rebellierte und zürnte ich. Das Los meiner Schwestern, die kochen, sticken und hübsch sein mussten, ohne ihre Schönkeit präsentieren zu dürfen, die folgsam im Schatten der Ehemänner lebten, denen sie Kinder gebaren, nur um dann ihr eigenes Glück dem der Kinder zu opfern, die stets die Meinung der Älteren – unzähliger Onkel, Brüder und weiser Ehemänner - respektieren und die von den letzteren festgelegten Regeln einhalten mussten, erzeugte in mir nur eine einziges Gefühl – ich empfand die Ungerechtigkeit. Je erwachsener ich wurde und je näher der Tag herankam, an dem ich meine töchterlichen Pflichten würde erfüllen müssen, desto stärker peinigte mich dieses Gefühl.


Aus einem verirrten Schaf verwandelte ich mich in eine trotzige Meuterin – eine Verrückte gewissermaßen, denn wer sich gegen einen übermächtigen Erzeuger auflehnt, wirkt auf andere immer irgendwie verrückt.


Die Höflinge begannen mir auszuweichen, später auch meine Schwestern. Zunächst geschah dies unauffällig: Mal vergaßen sie, mich zu einem Spaziergang in die Stadt einzuladen, mal, mich an einem heißen Tag zum Bad an der Quelle mitzunehmen. Schließlich wurden die einsamen Abendessen und Wanderungen duch den Schlosspark zur Regel, so dass mir schon das Putzmädchen als willkommene Gesellschaft erschien und meine Isolation mich zunehmend betrübte.


Abseits der vertrauten Gesellschaft litt ich sehr, bis ich irgendwann begriff, dass der Schlüssel zu meiner Erlösung in geistiger Verwirrung lag. Wer würde schon eine im Dunkeln tappende Seele zur Verantwortung ziehen und von ihr erwarten, dass sie sich aus Vernunft und Ehrgefühl in ihre Pflichten schickte? Nur ein ebenfalls geistig Gestörter! Als solcher aber wollte wohl kaum einer der Ritter und Würdenträger aus dem königlichen Gefolge gelten. Und erst recht war niemand in der Lage zu erkennen, dass mein Wahnsinn nur gespielt war.


Der Vater freilich konnte jede Lügedurchschauen, er las sie den Menschen im Gesicht ab, doch hatte er mein Gesicht seit Jahren nicht gesehen. Nachdem man ihm berichtet hatte, wie hysterisch ich sei, hatte er es vorgezogen, mich überhaupt nicht mehr zu sehen. Zum Glück hatte er ja noch genug andere Kinder …


Und so traf ich an einem Abend im Mai, als ich mit durchnässtem Rocksaum am tränenüberströmten Ufer des Flusses stand, eine Entscheidung. Die Trauerweide über dem Fluss lockte mich mit ihren Schlangenzweigen.


„Geh ins Wasser“, flüsterte sie mir zu, „dann glauben sie, du habest den Verstand verloren. Pflücke dort auf dem Hügel Kamillenblüten und Hahnenfuß, schone deine Hände nicht und nimm auch Brennnesseln. Und will sich der Kranz nicht flechten lassen, wickle Blutweiderich darum und trage ihn dann zum Fluss. Sogleich wird sich weithin die Kunde von der verrückten Tochter des Königs verbreiten …“


Die Weide hatte mich manches Mal in meinem kindlichen Kummer getröstet, wenn ich über dem glatten Wasser auf und ab schaukelte. Es ging nicht an, ihren freundschaftlichen Rat zu missachten. Deshalb pflückte ich eine Menge Blumen, fügte roten Mohn hinzu, den ich so sehr liebte, und setzte mich zum Kranzbinden in die purpurn verschwimmende untergehende Sonne.

Meine Schwestern, die zur selben Zeit auf dem Balkon zu Abend aßen, von dem aus sie den Garten überblicken konnten, sahen mir wahrscheinlich zu. Damit meine Zuschauerinnen wussten, was sie von mir zu halten hatten, begann ich zu singen:


Maihexe senkt ihren Blick, wenn sie Kräuter verbrennt, 8 hält ihre Seele versteckt hinter blühenden Weiden. 9 Seht, ein Gewitter kommt näher in diesem Moment: 10 Gift oder Honig im Becher beenden das Leiden. 11 12 Krähen erbauen ihr Nest in dem duftenden Haar, 13 und als Gewand hat der eiskalte Fluss sie umwunden. 14 Tanz mit dem tiefblauen Stern, oder ist es ein Mahr, 15 hat wie ein Boot ihre Seele schon losgebunden. 16 17 Maihexe wandert von Sommer zu Sommer und wacht, 18 quert unser Leben und webt dabei Nebelbänder. 19 Manch einer sieht sie frühmorgens, manch einer zur 20 Nacht. 21 Kommt sie vom Moor oder kommt sie aus fernen Ländern? 22 23 Winziges Feuerchen glimmt nur im Hexenherde. 24 Dort sitzt die Katze mit mondgelben Augen und lauscht. 25 Spinnwebenseide, die Süße der feuchten Erde … 26 Oh, wie die Wanderin trinkt und sich daran berauscht! 27 28 Spritzt sich den Tau über Körper, Gesicht und das 29 Haar, Yevheniia Spashchenko Textauszug „Das Lila Haus“ Üb.Christine Hengevoß 6 1 klatscht in die Hände, streut Stille und Sternenstaub 2 aus, 3 legt sich zu Bett und schläft ein, und sie schläft 4 tausend Jahr, 5 Träume und Wahres vermischend zum bunten Strauß.


Maihexe senkt ihren Blick, wenn sie Kräuter verbrennt,

hält ihre Seele versteckt hinter blühenden Weiden.

Seht, ein Gewitter kommt näher in diesem Moment:

Gift oder Honig im Becher beenden das Leiden.


Krähen erbauen ihr Nest in dem duftenden Haar,

und als Gewand hat der eiskalte Fluss sie umwunden.

Tanz mit dem tiefblauen Stern, oder ist es ein Mahr,

hat wie ein Boot ihre Seele schon losgebunden.


Maihexe wandert von Sommer zu Sommer und wacht,

quert unser Leben und webt dabei Nebelbänder.

Manch einer sieht sie frühmorgens, manch einer zur Nacht.

Kommt sie vom Moor oder kommt sie aus fernen Ländern?


Winziges Feuerchen glimmt nur im Hexenherde.

Dort sitzt die Katze mit mondgelben Augen und lauscht.

Spinnwebenseide, die Süße der feuchten Erde …

Oh, wie die Wanderin trinkt und sich daran berauscht!


Spritzt sich den Tau über Körper, Gesicht und das Haar,

klatscht in die Hände, streut Stille und Sternenstaub aus,

legt sich zu Bett und schläft ein, und sie schläft tausend Jahr,

Träume und Wahres vermischend zum bunten Strauß.



Ich war meinen Schwestern nicht böse, ich hatte sogar Verständnis für ihre Angst vor dem Verlust der elterlichen Liebe, wie auch für ihre Gleichgültigkeit, mit der sie kundtaten, dass sie anders waren als ich. Ich fragte mich nur, ob es sie tatsächlich glücklich machte, sich fremdem Willen unterzuordnen. War ihr Glück wirklich vergleichbar mit dem Entzücken, selbstbestimmt den eigenen Weg zu gehen?


Die unfrohen Gedanken erfüllten mein Lied mit Traurigkeit, und als es soweit war, dass ich ins Wasser hinabstieg, war mein Gesicht leiderfüllt. Vielleicht kam es deshalb zu großer Aufregung im Palast, als die Strömung begann, sich um meine Knöchel zu winden. Die Gleichgültigkeit der Schwestern war wie weggeblasen, sie warfen ihre Kelche beiseite und kamen in den Garten gerannt. Die Bediensteten, die zuvor von kühler Höflichkeit gewesen waren, stürzten schreiend zum lehmigen Ufer.


Das echte, nicht vorgespielte Erschrecken der Dienerschaft rührte mich, und fast hätte ich einen der mir entgegengestreckten Bootshaken ergriffen, doch fiel mir rechtzeitig ein, dass ich meine Rolle zu Ende spielen musste, sonst würde mir niemand meinen Wahnsinn abnehmen. Sie sollten glauben, dass ich ertrinken wollte, und dass dieses Schicksal mich weniger schreckte als das Los einer Königstochter.


Vielleicht hatte ich mir ja auch ein anderes Ende vorgestellt, als ich in die Fluten des barmherzigen Flusses eintauchte: dass ich viele Stunden in ihm liegen und beobachten würde, wie sich das Wasser im Herbst mit einer fesselnden Kruste bedeckt, dass ich wie ein Stein im nachgiebigen Grund festfrieren und dass mein Haar mit den Seerosen verwachsen würde, dass ich spüren würde, wie die Nässe des Flusses in meiner Brust gluckert und blubbert und heftigen, schwindsüchtigen Husten auslöst.


„Zieh sie raus!“, hörte ich es irgendwo über meinem Kopf rufen, ich aber streichelte weiter meine Blumenkranzfesseln.


„Ehe sie zuviel Wasser schluckt!“


Doch es war zu spät.


Meine Kinderfrau hatte mir, als ich klein war, erzählt, dass dieser Fluss in einem wundersamen Garten unter einem riesigen Baum entspringe. Die Früchte des Baumes sähen sehr süß aus, aber man dürfe sie nicht essen, auch wenn man noch so hungrig sei. Selbst ein winziger Bissen trage das Wissen um den Schmerz und die Unvollkommenheit der Welt in sich, und wer einmal davon gegessen habe, finde nie wieder seinen Frieden.


Die verhängnisvolle Wahrheit war mit dem Saft der Wurzeln viele Jahre lang in die unterirdische Quelle gesickert und hatte sie vergiftet. Nachdem ich von Kopf bis Fuß in den Fluss der Erkenntnis eingetaucht war, wurde ich selbst zu einem Kelch der Wahrheit. Von nun an bis zu meinem letzten Atemzug würde sie sich in meinen Fußstapfen abzeichnen, bitter auf meiner Zunge brennen und tiefrot aus meinem verwundeten Herzen fließen.

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